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Vom Nehmen und (Ver-)Geben

Der 7. Juli ist der internationale Tag der Vergebung - eine perfekte Gelegenheit, über das Vergeben zu sprechen, das Geben und das Nehmen. Und wenn ich das Begriffspaar Geben und Nehmen zusammen höre, dann drängt sich mir immer dieser christliche Kontext auf. Dieses "Geben ist seliger denn nehmen" aus der Bibel. Und diese Aussage wird in der Bibel verwendet, um das Geben als eine Tugend darzustellen und zu zeigen, dass wir möglichst großzügig mit unserer Liebe und unseren Ressourcen und so weiter umgehen sollten, geben als Ausdruck der nächsten Liebe quasi. Und dazu fällt mir dann immer ein katholischer Religionslehrer ein, der ein Stück Schokolade von mir angenommen hat. Ich habe ihm einen Riegel von einer Tafel Schokolade angeboten und er sagte dann, dass das Annehmen oft die größere Herausforderung sei, und das Nehmen eigentlich das Schwierigere sei als das Geben. Und das fand ich natürlich insofern interessant, weil er eben dieser Bibelthese eigentlich widersprach.


Obwohl es gute 25 Jahre her ist, erinnere ich mich noch daran. Ja, ich fand das in dem Zusammenhang ein bisschen dreist, der Lehrer mir diesen Schokoriegel abgenommen hat und mir dann noch gesagt hat, dass eigentlich sein Akt des Annehmens mehr Größe erfordern würde als mein Akt der Großzügigkeit


Aus heutiger Perspektive kann man sich schon mal überlegen, wie gehen wir überhaupt damit um, etwas anzunehmen? Für viele Menschen ist es wirklich eine Herausforderung, Dinge anzunehmen, auch mal anzunehmen, dass man Hilfe braucht, weil eben auch in unserer Gesellschaft Selbstständigkeit und Unabhängigkeit sehr wichtig ist. Und so könnte eben das Annehmen von Hilfe oder auch von Geschenken als Schwäche gesehen werden. Man muss auf eine gewisse Weise auch seinen Stolz überwinden, wenn man in der Position des Nehmenden ist, weil es auf eine Weise von außen so aussehen kann, als wäre man der Schwächere. Ein anderer Grund ist, dass viele Menschen es ganz wichtig sehen, dass Beziehungen gleichwertig sind, gleichgewichtig sind. Und natürlich ist es so, wenn immer nur der eine gibt und der andere nimmt, dann ist das ein Ungleichgewicht.


Wir alle kennen Leute, die Schwierigkeiten haben damit, etwas anzunehmen, insbesondere Hilfe anzunehmen und sich das einzugestehen, das ist ganz schön schwierig. Und natürlich auch in Zusammenhang mit emotionaler und psychischer Unterstützung. Da haben wir sowieso Nachholbedarf als Gesellschaft. Ich habe ja auch schon im Beitrag "Heilen ist gesehen werden" darüber gesprochen, dass wir da wirklich noch einiges zu lernen haben als Gesellschaft. Und so sehe ich auch einen Zusammenhang zwischen dem Vergeben und dem Nehmen, weil wir in beiden Fällen im Grunde genommen unseren Stolz schlucken müssen und vielleicht auch ein Stück weit einen Teil unseres Selbstbilds auch in Frage stellen müssen, dürfen.


Weil das Nehmen eben von uns erfordert, dass wir unsere Bedürfnisse anerkennen und uns selbst die Erlaubnis geben, Unterstützung oder Hilfe anzunehmen. Und so ähnlich kann eben auch das Vergeben dazu beitragen, dass wir unsere Bedürfnisse eher sehen, dass wir negative Emotionen loslassen, uns erlauben, inneren Frieden zu finden. Es gibt auch diesen Spruch, dass Vergeben so was ist wie einen Gefangenen freizulassen, nur um zu erkennen, dass man selbst dieser Gefangene war. Das zielt darauf ab, dass wir ja mit unseren eigenen negativen Emotionen ja immer zusammen sind, egal ob das jetzt ein Groll ist oder ein Rachegefühl oder ein Gefühl der Ungerechtigkeit. Und wenn ich an diesen Gefühlen festhalte, dann bade ich selbst in diesen negativen Emotionen. Und die andere Person bekommt wahrscheinlich gar nicht mit, dass wir Rachegefühle oder mit Grollgefühle mit uns herumtragen. Und insofern kann dieses Vergeben eine Möglichkeit sein, uns selbst eben loszulassen, ein Bild von uns selbst loszulassen, Gefühle loszulassen und gleichzeitig zu einem Annehmen führen, weil ich mir erst die Sache anschauen muss, bevor ich sie loslassen kann.


Das heißt, ich muss mir erst mal angucken, was habe ich denn da, was ich wochenlang, monatelang, jahrelang vielleicht für einen Groll mit mir rumgetragen? Und was für eine Befreiung ist das eigentlich, diesen Groll auch loszulassen? Und an der Stelle möchte ich bemerken, dass es nicht immer möglich ist, jemand anderem zu vergeben, in dem Sinne, dass diese Beziehung dann wiederhergestellt oder repariert wird. Es gibt auch Sachen, die muss man überhaupt nicht verzeihen. Aber es geht darum, dass ich mich innerlich von Dingen befreien kann, auch diese Beziehung vielleicht loslassen, mich um mein eigenes persönliches Inneres kümmern, mich selbst zu schützen. Insofern kann eben dieses Vergeben, dieser Prozess des Vergebens auch ein Vergeben sein mir selbst gegenüber, dass ich so lange an irgendwas festgehalten habe, dass ich so lange diese Heilung verhindert habe.


Und niemand sagt, dass man mit Menschen, die einem offensichtlich nicht gut tun, Kontakt aufnehmen soll, nur um der Vergebung willen. Aber uns kann es gut tun, den Weg der Vergebung zu gehen und für uns erst mal Empathie aufzubringen, für uns erst mal Verständnis aufzubringen und zu verstehen, warum wir eigentlich überhaupt diese Gefühle für jemand anderen haben, die der Vergebung bedürfen.


Es gibt eine Abnehm-Coach-Frau, die davon ausgeht, dass Übergewicht meistens dadurch ausgelöst wird, dass die Menschen innere Themen für sich nicht geklärt haben, sie arbeitet mit Innerer-Kind-Heilung geht etc. Und diese Frau versucht, das Abnehmen auf psychologische Weise und nicht mit Diäten etc. zu anzuleiten. Sie hat diesen Spruch: "Erst annehmen, dann abnehmen!" Das heißt, bevor ich irgendwas loslassen kann, muss ich das erst mal annehmen und mir angucken: "Was ist denn da los? Was für negative Emotionen trage ich denn eigentlich gerade mit mir rum?" Damit ich diese loslassen kann, damit ich überhaupt erst mal Verständnis dafür aufbringen kann, was da in mir geschweelt hat.


Das Nehmen, aber auch das Vergeben kostet einiges an Mut, weil man sich öffnen muss gegenüber verschiedenen Versionen von sich selbst, die man vielleicht so nicht sehen wollte oder bisher nicht gesehen hat.


Und schlussendlich kann auch das Geben eine Herausforderung für einen sein, weil es schwierig sein kann, Grenzen zu setzen: Wie viel gebe ich? Was ist angemessen? Was ist eine gute Balance zwischen dem Geben für andere und meinem eigenen Wohlbefinden? Wenn das Geben zu sehr an das Bedürfnis nach Anerkennung gekoppelt ist, dann ist es schwierig, unter anderem, weil dieses Bedürfnis in der Regel ja auch nicht offen kommuniziert wird. Und wenn man zu einer Person wird, die ständig am Geben ist, dann geht man ja immer wieder über die eigenen Grenzen, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Das kann natürlich auch zahlreiche Folgen haben, wie gesundheitliche Folgen, Erschöpfung, Verschuldung, oder andere negative Auswirkungen, wenn ich meine eigenen Grenzen schütze.


Ja, Ihr seht: Bei allem, beim Geben, beim Vergeben, beim Nehmen haben wir Herausforderungen. Diese Tätigkeiten können jedoch genauso stärkend und positiv sein, wenn wir auf eine gute, gesunde Weise geben, wenn wir auf eine gute Weise nehmen, wenn wir auf eine gute Weise vergeben, dann können wir gleichzeitig großzügig sein, anderen was Gutes tun, unsere Beziehung stärken und positive Energie in unser Leben einladen, wenn wir uns im Gegenzug auch erlauben, Hilfe und Unterstützung anzunehme. Und wenn wir uns von vergangenen Geschichten befreien und uns öffnen für neue Dinge, dann kann - wenn es alles in einer schönen Harmonie ist, das Geben, das Nehmen und das Vergeben - das wunderbar zusammen klingen und stimmen.


Da hat dieser internationale Tag der Vergebung, der eben am 7. Juli gefeiert wird, einen schönen Anlass gegeben, darüber zu reflektieren, wie man Vergebung sinnvoll praktizieren kann, was "nehmen" für eine Herausforderung sein kann und wie schön es sein kann, zu "geben" in dem richtigen Maß, das einem gut tut.


Eigentlich tut man all diese Sachen jeden Tag. Man nimmt, man gibt, man vergibt. Es ist immer nur eine Frage des Maßes und wie sehr das eigentlich das eigene Leben beeinflusst. Und in diesem Sinne kann ja dieser Beitrag vielleicht eine Anregung sein, über das Geben, Nehmen und Vergeben nachzudenken und darüber, wie man mit den eigenen Grenzen umgeht, wenn ihr da ein Thema haben solltet. Ihr wisst, wo ihr mich findet.




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