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Heilen heißt gesehen werden

Autorenbild: Annika BeifussAnnika Beifuss

Heute geht es darum, was Heilung eigentlich bedeutet. Ich spreche in dem Zusammenhang nicht von einem gebrochenen Arm oder einer Erkältung, sondern ich von einer psychischen Heilung, dem psychischen Schmerz, den Ihr erlebt und was Heilung in dem Zusammenhang bedeutet. Ich möchte Euch auf ein Gedankenexperiment einladen. Stellt Euch vor, Ihr habt den Arm gebrochen und alle tun so, als wäre nix. Es ist ganz offensichtlich, dass Ihr Schwierigkeiten habt, Euren Arm zu bewegen. Die meisten können das auch von außen schon sehen, auch wenn sie nicht medizinisch ausgebildet sind, dass irgendwas mit dem Arm nicht stimmt. Und Ihr tut so, als wäre da nichts. Ihr tut so, als gäbe es da nichts, als würden sich die anderen Personen das ja nur einbilden. Als würdet Ihr Euch das nur einbilden, dass es da Schmerzen gibt, dass es unangenehm ist, als müsstet Ihr nur fest genug dran glauben, dass ja schon alles in Ordnung ist und dann erledigt sich das von alleine.


Ja, man würde zu den meisten Menschen, die so mit ihrem gebrochenen Arm umgehen, sagen: "Seid Ihr denn bekloppt? Ihr blendet komplett aus, dass da etwas überhaupt nicht in Ordnung ist!" Und gleichzeitig ist es das, was immer noch in unserer Gesellschaft häufig gefordert wird von Menschen, die psychischen Schmerz erleben. Und häufig tragen Menschen Ihren emotionalen Schmerz und traumatische Erfahrungen mit sich rum, die sie belasten und sie daran hindern, ein erfülltes Leben zu führen.


Und häufig, weil Ihr eben gelernt habt, dass psychischer Schmerz etwas ist, was man ignorieren sollte, merkt Ihr gar nicht, dass Euch Dinge blockieren, weil sie ja Euer Normal sind. Es ist Euer Normal aus verschiedenen Gründen.


Ein Grund ist, dass es in unserer Gesellschaft eben ganz normal ist, mit diesen Dingen nicht umzugehen, einen gebrochenen Arm zu behandeln und gleichzeitig ein gebrochenes Herz zu ignorieren. Und der zweite Grund ist, dass Euer Unterbewusstes natürlich Euer Bestes will und deswegen dafür sorgt, dass das, was weh tut, im Verborgenen bleibt.


Um das anschaulich zu machen, gebe ich mal ein Beispiel. Stellt Euch vor, eine Person ist unglücklich, weil sie Single ist und den Eindruck hat, dass eine erfüllende Beziehung für sie nicht in Erfüllung gehen kann. Und es kann gut sein, dass diese Person die Gelegenheit hat, jemanden kennenzulernen und eine potenziell schöne und liebevolle Beziehung aufzubauen. Aber sie sieht diese Gelegenheiten vielleicht sogar gar nicht. Und das kann daran liegen, dass sie in der Vergangenheit eine schmerzhafte Erfahrung gemacht hat. Und dieser emotionale Schmerz sitzt so tief und hat dazu geführt, dass sie sich vor weiteren Beziehungen und möglichen Verletzungen abschottet.


Und jetzt kommt ein entscheidender Punkt: Es ist sehr gut möglich, dass diese Person gar nicht merkt, dass sie das selber unterbindet, dass sie sich selbst abschottet, weil nämlich a.) es so normal ist, den emotionalen zu ignorieren und weil es b.), gut sein kann, dass das Unterbewusste dafür sorgt, dass die Person vor vergleichbaren Erfahrungen geschützt wird. Und indem diese Person den persönlichen Schmerz vermeiden möchte und sich vor möglichen Verletzungen abschirmt, kann sie natürlich die Chance nicht ergreifen, wenn es etwas Schönes und Erfüllendes geben könnte.


Und hier an der Stelle der Disclaimer: Ich möchte nicht unterstellen, dass Singles weniger Lebensqualität haben oder dass sich Menschen, die Single sind, eine Beziehung wünschen automatisch oder auch dass überhaupt eine Beziehung für jeden Menschen wünschenswert sei. Nichts davon möchte ich unterstellen, aber die Person, von der wir jetzt gerade ausgehen, wünscht sich eben eine Beziehung zu einem anderen Menschen und fragt sich, warum das eigentlich nicht passieren kann.


Und da sind wir jetzt bei dem Punkt,

wo es darum geht, sich den gebrochenen Arm anzuschauen. Um den Schmerz zu überwinden und zu heilen, müsst Ihr Euch erlauben, den Schmerz auch zu erkennen und auszudrücken. Das Zulassen und das Ausdrücken eines Schmerzes, eines seelischen Schmerzes, ist ein ganz wichtiger Schritt auf dem Weg zur Heilung. Es bedeutet einfach nur, Euch selbst zu erlauben, diese Gefühle zu haben, verwundbar zu sein und Euch zu sehen. Und das ist auch häufig schon das, was ausreicht. Zu sehen. Euch anzusehen und anzuerkennen, dass es diesen Schmerz gibt. In dem Prozess liegt so viel Kraft. In dem Prozess liegt die Freiheit im Grunde genommen. Und da möchte ich an der Stelle noch einen Satz zitieren, der häufig Milton Erickson zugeschrieben wird: "Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit." Und das ist das, was häufig mit innerer Kindarbeit gemeint ist. Da geht es genau um dieses, den Schmerz anzuerkennen, zu sehen und durch das Sehen zu heilen. Und damit legen wir den Grundstein für ein Leben im inneren Frieden.


Ja, das klingt pathetisch, ist es vielleicht auch ein Stück weit, Aber es ist mir ernst. Es geht darum, dass Heilung in ganz vielen Fällen nichts anderes ist, als die Erlaubnis, gesehen werden zu dürfen. Oder Euch selbst die Erlaubnis zu geben, hinzugucken, wo es weh tut, und dass es überhaupt weh tut. Und da tun wir uns noch immer sehr viel leichter mit einem gebrochenen Arm. Aber wir sind auf einem guten Weg: Zum Glück ist es immer anerkannter, dass man sich Hilfe holt, auch bei psychischen Schmerzen und sich Unterstützung holt, um seine Themen zu bearbeiten. Es ist noch lange nicht wie beim gebrochenen Arm, bei dem jeder und jede sagen würde: "Ja klar, da muss man sich drum kümmern", aber es wird besser Stück für Stück. Wir arbeiten dran.





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